Eine Ende des Schreckens oder ein Schrecken ohne Ende?

Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022

Man beurteile ein Buch nicht nach dem Umschlag, denn die Autorin ist nicht Kritikerin, sondern Reformerin.

Eigentlich ist das hochaktuelle und für die derzeitige Klimadebatte beinahe unumgängliche Buch von Ulrike Herrmann sehr schnell zusammengefasst: Der Kapitalismus ist ein Prozess, der auf Wachstum beruht. Die Grenzen des Wachstums sind weitgehend erreicht und weiteres Wachstum zerstört die Lebensgrundlagen der Menschheit für Generationen oder gar für immer.

Eine Wirtschaft, die auf Wachstum verzichtet ist keine kapitalistische mehr, dies bedeutet aber nicht ein Ende der Marktfreiheit oder ein drastischer Einschnitt in die Lebensqualität der Menschen. Im Gegenteil, eine private Planwirtschaft wie Herrmann sie vorschlägt, reguliert und rationiert lediglich die knappen (treibhausgasintensiven) Güter und sorgt zugleich für eine Verteilungsgerechtigkeit, so dass vor allem einige wenige natürliche und juristische Personen sich einschränken und verzichten müssten, die ohnehin auf viel zu grossem ökologischen Fuss leben.

Es würde sich in solch einer schrumpfenden Kreislaufwirtschaft ein gemässigter Lebensstandard für alle (!) einpendeln, der sich zwar durch bestimmte Einschränkungen bei besonders klimaschädlichen Produkten und Aktivitäten auszeichnen würde, aber eben auch durch eine deutlich umweltverträglichere Gesamtwirtschaft. Dass dies möglich ist, beweist laut Herrmann die staatliche Lenkung der Wirtschaft in Grossbritannien während des Zweiten Weltkriegs, der den Unternehmen und Menschen immer noch zahlreiche Entscheidungsfreiheiten und ein ausreichend angenehmes Leben bot, doch mit einer klaren Zielsetzung: Damals war es die Verteidigung gegen einen Aggressor und heute wäre es die Bewältigung des (beschleunigten) Klimawandels.

In einer Zeit, da viele ein „grünes“ Wachstum und damit die Fortsetzung des übersteigerten kapitalistischen Rohstoffhungers statt eines besonnen Masshaltens propagieren, ist das Buch ein mutiger und durchdachter Aufruf, etwas mehr Staat zu wagen.

Das Buch beim KiWi-Verlag

Buchkritik bei spektrum.de

Die Autorin bei „jung & naiv“

Auf der Suche nach dem unheiligen Gral

Grégoire Hervier: Vintage, Diogenes 2019 (frz. Original von 2017)

Juke Joints waren eine wichtige der vielen Wurzeln amerikanischer Musik.
– Bild von M. Post Wolcott aus dem Jahr 1941, Wikipedia.

Thomas hilft in einem Pariser Gitarrenladen aus und übernimmt einen Botengang für seinen Chef, der nicht gerne fliegt. So gelangt er nach Inverness in Schottland, macht Bekanntschaft mit einem mysteriösen Lord, dem er eine seltene Gitarre überbringt.

Der ältere Mann im Rollstuhl zeigt ihm seine Sammlung, in der das zentrale Stück fehlt. Dieses soll Thomas nun wiederfinden oder zumindest für die Versicherung beweisen, dass das seltene Instrument existiert.

Eine Million für den Beweis und alle Spesen gedeckt? Der junge Journalist und Musiker überlegt nicht lange. Die Suche führt ihn zunächst nach Australien und schliesslich in die Vereinigten Staaten, wo die Geschichte richtig Fahrt aufnimmt und zu einem plakativ cineastischen Roadtrip wird, mit Sackgassen, Widersachern, Kalamitäten und glücklichen Zufällen.

Das Buch verübt eine beinah unwiderstehliche Sogwirkung , zum einen durch die bildliche Sprache und die vertrakte Suche nach immer weiteren Hinweisen zum vermeintlich heiligen Gral des Gitarrenbaus, aber sicher auch dank der besonders atmosphärischen Erzählweise und nuancierten Charaktere.

Für Leute, die auf Gitarren und amerikanische Musik des zwanzigsten Jahrhunderts stehen, ist die Lektüre ein Muss und Genuss zugleich.

Das Buch beim Diogenes Verlag, inklusive Soundtrack zum Buch

Eine andere Gegenwart mit etwas mehr Zukunft

Kim Stanley Robinson: Das Ministerium für die Zukunft, Heyne 2021

Das Wasser ist ein Zufluchtsort während der Hitze. Bild: Rohan Reddy, Unsplash.

Frank arbeitet als Entwicklungshelfer in einer indischen Stadt. Als er zu sich kommt, ist er weitum der einzige Überlebende einer Hitzewelle, die alle bisherigen in den Schatten stellt und die den Menschen klarmacht, dass der Klimawandel noch zu ihren Lebzeiten bedrohlich werden wird. Nach und nach werden verschiedene Massnahmen ergriffen und zum Teil drastische Entscheide gefällt, um den Ausstoss von Treibhausgasen und die Zerstörung von Lebensräumen zu vermindern oder sogar wieder rückgängig zu machen.

Verantwortlich für die Koordination der globalen Aktivitäten ist das neu geschaffene Ministerium für die Zukunft in Zürich. Ein grosser Teil des Buches spielt demnach im neutralen Alpenland und beschreibt es überzeugend, was nicht überrascht, da der Autor in den Achtzigerjahren selbst in der Schweiz gelebt und vermutlich den „Kafi fertig“ liebgewonnen hat oder dies zumindest der Hauptfigur Mary zuschreibt. Frank und Mary sind aber nur zwei wichtige von sehr vielen Stimmen des Romans über eine alternative Gegenwart und die nahe Zukunft.

Der polyphone Aufbau des Gesamttextes wird kapitelweise auch stilistisch vielfältig mitgetragen, was es den Lesenden aber bisweilen nicht immer einfach macht, der Erzählung treu zu bleiben und zu folgen. Die Versuchung, einzelne Passagen zu überspringen ist manchmal gross, lohnt sich aufgrund der dadurch verpassten Ideen jedoch meistens nicht. Globale Probleme und deren Lösungen sind vielschichtig, insofern werden die Schreibweisen dieser Tatsache gerecht und bieten viele Momente der Reflexion. Bei protokollartigen Teilsatzkapiteln muss man sich allerdings schon etwas durcharbeiten.

Zur zweiten Hälfte hin wird das Buch lesefreundlicher und insgesamt weniger düster. Ganz so dystopisch wie zunächst befürchtet gestaltet sich unser fiktiv vorweggenommenes Jahrhundert dann doch nicht aus. Besonders interessant ist, dass Lösungswege auf allen Ebenen aufgezeigt, also etwa auch Ansätze für mehr globale Gerechtigkeit und das zukünftige Finanzwesen thematisiert werden. In narrativer Verpackung macht der Autor mit zahlreichen Theorien und ihrer (möglichen) praktischen Umsetzung vertraut. Wie liesse sich eine globale Währung an die Reduktion des Kohlenstoffausstosses binden und ist Carboncoin überhaupt ein guter Name dafür? Wie könnten sinnvolle Schutzgebiete und Lebensraumkorridore geschaffen werden, damit sich die Natur erholen kann?

Dieses Buch zeigt unmissverständlich auf, dass so rasch wie möglich Veränderungen veranlasst werden müssen, damit die Menschheit eine Zukunft hat. Eine Notwendigkeit, die angesichts der noch andauernden Pandemie und des aktuellen Krieges in Europa leider allzu leicht vergessen wird. Diese Ereignisse waren weniger wahrscheinlich als die künftigen Klimakrisen und daher für Robinson weniger vorhersehbar. Doch auf dem indischen Subkontinent zeichnet sich nun gerade genau das ab, was er noch als zukünftiges Szenario beschrieben hat: Seit Monaten ist es in vielen Ländern deutlich zu heiss und der eigentliche Hitzemonat steht vielerorts erst noch bevor.

Wollen wir hoffen, dass sich das Geschehen in der wirklichen Gegenwart weniger tragisch ausgestaltet, die Weltgemeinschaft aber dennoch dazu bewegt wird, endlich individuell und kollektiv die Verantwortung für alles (verbliebene) Leben auf dem Planeten zu tragen und – im Gegensatz zum Roman – auf rein friedfertige Weise der Menschheit eine Zukunft zu ermöglichen, die diesen Namen verdient, mit oder ohne Ministerium.

Die deutsche Übersetzung auf der Seite von Heyne / Random House

Rekordtemperaturen in Indien, Tages-Anzeiger vom 3. Mai 2022

Eine ungeheuerliche Zukunft der Menschheit

James S. A. Corey: The Expanse, 9 Bücher, Orbit Books 2011-2021, Heyne 2012-2022

Wie Cervantes‘ Hauptfigur stürzt sich auch der tragische Held der Expanse-Reihe gemäss seinem ritterlichen Ideal in aussichtslos erscheinende Kämpfe gegen Riesen, mitsamt seinem treuen Raumschiff „Rocinante“. Statue von Don Quijote in Villanueva de los Infantes. Bild: Wikipedia.

Über fünftausend Seiten umfassen alle neun Romane des Autoren-Duos Daniel Abraham und Ty Franck in der englischen Ausgabe. Zeitlich spielt die Reihe in nicht allzu ferner Zukunft, wobei vom ersten zum letzten Roman mehrere Jahrzehnte vergehen und viele Charaktere bedeutend älter werden.

Überhaupt zeichnet sich diese Art von Science-Fiction durch einen besonders ausgeprägten Realismus aus, weshalb bei Expanse oft von Hard Sci-Fi gesprochen wird. Nur zwei fantastische Elemente zeichnen das fiktive Universum aus, deren künftiges Eintreten im einen Fall wahrscheinlich und im anderen durchaus möglich ist. Ansonsten funktioniert diese Welt – ursprünglich war die Geschichte als Plot für ein Computerspiel gedacht – nach den gleichen Gesetzen wie unsere, vor allem wurden die Gravitationskräfte durchwegs berücksichtigt, weshalb die Erzählung besonders glaubwürdig und mitunter sogar prophetisch wirkt.

Die Menschheit hat Mond und Mars kolonisiert. Der Mars hat sich die Unabhängigkeit von der Erde errungen und dank des besonders wirksamen Epstein-Antriebs ist es gelungen, den Asteroidengürtel und die äusseren Planeten zu erreichen. Doch auch diese Fraktion will die Unabhängigkeit von den „Inneren“ erlangen.

So stehen sich zahlenmässig überlegene Terraner, technologisch fortschrittliche Marsianer und kommunitaristische Gürtler mit eigener Sprache misstrauisch und unverhohlen feindseelig gegenüber, als es nach dem Abschuss eines Raumschiffs zu Spannungen kommt. Nur die bunte Schicksalsgemeinschaft um James Holden kann die Zerstörung der „Canterbury“ bezeugen und bringt mit der systemweiten Verbreitung dieser Nachricht einige Konflikte ins Rollen und sich selbst in Gefahr.

Hinzu kommt, dass auf einem Asteroid ein fremdartiger Organismus entdeckt wird, der ähnlich einer Krankheit die Menschen befallen, sie verändern und töten kann. Natürlich versuchen nicht wenige, dieses „Protomolekül“ als Waffe oder zumindest zu ihrem Vorteil zu nutzen. Es ist dieses Ungeheuerliche (der Leviathan), das alles verändert und die Menschheit auf die Probe stellt. Acht Bücher der Reihe handeln eigentlich nur von den Folgen der Ereignisse im ersten Buch, werden dabei aber niemals langweilig oder platt.

Besonders lesenswert sind diese fünftausend Seiten, da immer wieder ethische Fragen thematisiert werden, die uns auch heute beschäftigen und die im Zerrspiegel der Fiktion überhaupt erst ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die Charaktere sind meist derart vielschichtig und authentisch beschrieben, dass man ihre Entwicklung stets mitverfolgen möchte. Die Bücher selbst sind mit unterschiedlichen Stilmitteln geschrieben, die gekonnt aus anderen Genres entlehnt wurden. Auf den Noirroman folgt ein Politthriller und auf diesen ein Western, und so weiter.

Die Handlung wird durch die Kooperation der Autoren unerbittlich vorangetrieben, entsprechend blättert man nur noch staunend und hingerissen Seite um Seite um. Während einem Jahrzehnt entstand ein unglaublich gut geschriebenes Epos, das geradezu homerisch packend von Individuen erzählt und dabei spielerisch die grossen Fragen der Menschheit aufwirft, ohne sie tatsächlich zu stellen.

Die englischen Bücher auf der Autorenseite

Die deutschen Bücher auf der Seite von Heyne / Random House

Die Autoren zu Gast bei Google (Video: Talks at Google)

Englische Rezension des ersten Buches ohne Spoiler (Video)

Parallellektüren = Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre + Ian Kershaw: To Hell and Back + Roller-Coaster Europe

Hanser 2014 + Penguin 2016 + 2019

Ein sogenannter „Mauerspecht“ macht sich 1989 klopfend an der Berliner Mauer zu schaffen und trägt symbolisch die harten Grenzen und Dichotomien des 20. Jahrhunderts ab. Neue Lebensweisen und Rhythmen wie jene des Jazz unterhöhlten und löcherten die alten Konventionen seit Ende des 1. Weltkriegs, doch der Todeskampf der eigentlich vorgestrigen Weltsichten schuf neue Höllen der Unmenschlichkeit. Bild: Wikipedia

Fragt man sich, worin das lebensweltliche und das geistige Erbe der Zerwürfnisse und Entwicklungen des letzten Jahrhunderts liegt, drängt sich auf, dass aus den zahlreichen, oft komplett verantwortungslos, nicht selten mutwillig und vereinzelt desaströs herbeigeführten Trümmerhaufen althergebrachter Strukturen und Vernunftprinzipien, zwar eine befreiend anmutende, neuartige Komplexität und Vielgestaltigkeit (das bunte Graffitto im Bild oben) entstanden ist, zugleich aber auch eine unglaublich dilettantische wie kurzsichtige Dekonstruktion oder Umwandlung von Sicherheiten und Richtlinien einherging, die heute in eine lähmende Unverfügbarkeit von damals angestossenen Entwicklungen mündet.

Aus heutiger Distanz gesehen, erscheinen diese Handlungen ihrer Tragweite und Schwere nach kaum mehr nachvollziehbar, da man sich mit den ambivalenten Konsequenzen der damaligen Handlungen konfrontiert sieht und diese höchstens noch abmildern, aber nicht mehr rückgängig machen kann, was z.B. im Fall von Gleichberechtigung ja gar nicht wünschenswert wäre. Die Perspektive früherer Menschen ist natürlich immer eine andere als jene ihrer Nachkommenschaft, jedoch ist das zwanzigste Jahrhundert insofern besonders, als dass seine unsäglich barbarischen Umbrüche ebenso wie die unglaublich fortschrittlichen Durchbrüche, die es mit sich brachte, das Konzept und den Sinn der menschlichen Ziviliation selbst fundamental in Frage stellte.

Die drei Bücher von Blom und Kershaw können helfen, diese Sichtweisen, vor allem aber die Empfindungen von Menschen vor dem Ende des Jahrtausends angesichts der vormals völlig ungeahnten Potentiale von Entfaltung und Zerstörung zu rekonstruieren. Während Blom wie so oft durch eine kulturwissenschaftliche Lupe auf das Leben der Zwischenkriegszeit das Warum des zweiten Weltkriegs und der von ihm geschlagenen Wellen etwas nachvollziehbarer macht, ergibt sich durch die nüchterne und niemals einseitige Betrachtung Kershaws ein Überblick auf zehn Jahrzehnte Menschheitsgeschichte, die dadurch zwar nicht nachvollziehbarer, aber in ihrer Bedeutsamkeit durchaus um einiges klarer werden.

Die starken Kontraste, die sich primär gesellschaftlich ab 1900 und noch intensiviert nach 1918 bemerkbar machten, brachten tiefgreifende Veränderungen auf allen Ebenen des menschlichen Daseins ins Rollen, die zuvor undenkbar gewesen wären. Die beiden Weltkriege waren in vielerlei Hinsicht nicht nur grosse Gleichmacher, sonden schufen neue Arten der Ungleichheit, die in Verbindung mit dem ungebrochenen technologischen Machbarkeitsglauben und durch existentielle Ängste vor dem Kontrollverlust eine unheilvolle Wirkung zeitigten. Alles wurde dem Cliché-Europäer zur Bedrohung: Frauen, Talent, Intelligenz, Hautfarbe und überhaupt alles Andersartige. Unfähig, diese Herausforderungen als Bereicherung zu sehen und sich ihnen zu öffnen, blieb den vom alten Bild der männlichen Rationalität geprägten und zugleich von Kriegserlebnissen traumatisierten Gesellschaft nichts anderes als reaktionäre Flucht in die vertrauten Mittel und deren Steigerung in die Perversion: Aneignung, Abschreckung und Unterdrückung.

Die mit diesem Verhalten einhergehenden Privilegien schienen viele, wenn nicht sogar alle Massnahmen zu rechtfertigen. Zunächst wenigstens; doch mit fortschreitender Eskalation dieser narzisstischen Machbarkeitsideologie und ihren immer hässlicher werdenden Niederschlägen in Form von Diskriminierung, militärischer Aufrüstung, radioaktiver Verstrahlung, anhaltender Umweltzerstörung und globaler Ausbeutung, regte sich der Widerstand insbesondere in jenen Gesellschaften, die ausgehend von diesen Privilegien immer gebildeter und egalitärer wurden. Kershaw zeigt auf, wie sich diese Umwälzungen auch in diesem Jahrhundert bemerkbar machen und hört mit der Geschichtsschreibung erst in der Gegenwart auf und thematisiert zum Schluss sogar noch den Brexit, was eher unüblich ist für einen Historiker, da man sich doch oft eine reflexive Distanz von rund zwanzig Jahren herausnimmt, um die vergangenen Prozesse im Lichte ihres Kontextes schildern zu können. Seine Entscheidung, einen fliessenden Übergang in die jüngste Zeitgeschichte zu wagen, unterstützt und vertieft genealogisch durchaus das Verständnis der heutigen Begebenheiten.

Alle drei Bücher ergänzen sich zu einem guten Überblick der Dynamik der letzten hundert Jahre. Die damalige Zeit und insbesondere ihre Zeuginnen und Zeugen entrinnen mitsamt ihren Erinnerungen nun langsam dem kollektiven Gewahrsein. Wie mag es sich angefühlt haben? Ohne Geld in der grossen Depression, leicht verrucht im Jazz-Keller, im scheinbar gerechten Krieg mit allen Mitteln, in den Trümmern der alten Welt, im Rausch des Wirtschaftswunders, angesichts der nuklearen Apokalypse, jedes Wort wie ein mögliches Todesurteil abwägen müssen, beflimmert der Mondlandung beiwohnen, für die Rechte der halben Menschheit oder gegen das Waldsterben demonstrieren, auf einmal frei auf der Mauer sitzen oder erstmals begeistert ein Rockkonzert besuchen zu können? Dies sind alles Gefühle, die aus globalisierter Perspektive zwangsläufig immer etwas eingeschränkt wirken mögen, für die Leute damals war die Erfahrung ihrer Lebenswelt jedoch absolut und nicht relativiert wie für uns. Es könnte also nicht schaden, selbst sein Weltbild etwas zu erweitern, die nachfolgenden Menschen ebenfalls im Blick zu haben und sich dieses Mal wahrhaft zu emanzipieren zu einer Spezies, die verantwortlich mit sich selbst und diesem einzigartigen Planeten umgeht.

“War, like death, is a great leveller, and mutual suffering and endurance had made us all friends.”

– Mary Seacole, „Wonderful Adventures of Mrs. Seacole in Many Lands“ (1857)

Weiterführende Links:

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre – Hanser Verlag

Philipp Blom spricht über „Die zerrissenen Jahre. 1918-1938“ – YouTube

Leselounge: Philipp Blom im Gespräch mit Günter Kaindlstorfer – YouTube

Ian Kershaw: To Hell and Back – Penguin

Ian Kershaw: Roller-Coaster – Penguin

Europe’s Stories: Ian Kershaw – YouTube

Parallellektüre = Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent + Christopher Clark: The Sleepwalkers

Hanser 2009 + Penguin 2012

Wasserschloss und die Palais der chemischen und mechanischen Industrie an der Weltausstellung von 1900 auf dem Champ-de-Mars in Paris. Bild: Wikipedia

Um das zwanzigste Jahrhundert und indirekt auch die Umbrüche der heutigen Lebenswelt besser zu verstehen, empfiehlt es sich, die Welt um 1900 genauer kennen zu lernen. Eine lesenswerte Gelegenheit hierzu bieten die beiden Bücher von Blom und Clark, wobei ersteres eher der Frage nachgeht, wie die Zivilgesellschaft im heutigen Sinne entstanden und eine ganz andere Welterfahrung innert weniger Jahre verschwunden ist und letzteres aufzeigt, wie der kriegerische Konflikt des ersten Weltkriegs angesichts der Machtblöcke, Defensivpakte, Schuldverhältnisse und der schier unüberwindlichen Denkmuster praktisch unvermeidbar war.

„Die Schlafwandler“ ist insofern unüblich, als es auch die psychologischen Vorgänge und gesellschaftlichen Werte thematisiert, die angesichts der rapiden Veränderungen und Beschleunigungen vor allem im Gebiet der Technik nur mit einem Wort zu beschreiben wären: individuelle und kollektive Überforderung. Auf diesen Umstand reagierten die meisten Individuen und Gesellschaften gleichsam mit reaktionären Fluchten in Stereotype, vor allem jene der Männlichkeit, der Kontrolle und der Nation. Schon allein diese Übersteigerungen machten einen friedlichen Weg ins beginnende zwanzigste Jahrhundert schwierig oder gar unmöglich.

Auch in „Der taumelnde Kontinent“ zeigt sich, dass die konstanten und immer zahlreicheren Infragestellungen durch technologische, kulturelle wie auch soziale Umbrüche beinahe alle herkömmlichen Garantien in Frage stellten oder gar obsolet erscheinen liessen. Status, Autorität, Hautfarbe, Geschlecht, Vernunft und Bildung waren in den Jahren um die Jahrhundertwende zu Quellen der Verunsicherung geworden. Blom zeigt auf, wie vornehmlich die ängstlichen, weissen Männer sich in Obsessionen der vermeintlichen Stärke und Überlegenheit stürzten. Mit dem aufkeimenden Selbstbewusstsein der Frauen, kam jenes der Männer ins Wanken, worauf diese ihre gesellschaftliche Stellung verteidigten und durch Militarismus, Kolonialismus, Sexismus und zahlreiche weitere hässliche Ausgestaltungen des Herrschaftsgefüges noch ausbauten.

Während sich die einen durch den Rückgriff auf ein verklärt viriles und offen rassistisches Welt- und Menschenbild gegen die Modernisierung aller Lebensbereiche stellten, konnten die anderen, etwas feinfühligeren Naturen, sich oft selbst nicht mehr retten und drifteten angesichts der zahllosen Eindrücke, Neuerungen und Mechanisierungen von Arbeit in ein Gefühl der Nutz- und Hoffnungslosigkeit, nicht selten entwickelten sie bislang unbekannte Nervenleiden. Sprache und Denken waren noch ausgerichtet auf ein überschaubares Leben in einem gemächlichen Tempo innerhalb von einigermassen konstanten gesellschaftlichen Strukturen. Binnen zweier Jahrzehnte hatte sich die Lebenswelt komplett gewandelt und bewirkte bei den Menschen Verblüffung, Spannung, Unsicherheit, Wut und oft auch Grausamkeit.

Beide Bücher entführen in eine Zeit, die unserer so unglaublich fremd erscheint, wenn man das Nachwirken und die Verwurzelungen des neunzehnten Jahrhunderts erkennt. Zugleich jedoch befinden wir uns heute an einem sehr ähnlichen Punkt, vieles wird durch die Digitalisierung obsolet ähnlich wie damals durch die Mechanisierung. Menschen sind gezwungen, über ihren Wert als Arbeitskraft oder Person und über ihre Wertvorstellungen grundlegend nachzudenken. Lernen könnte man aus dieser Parallellektüre, dass man auch zugeben darf, wenn etwas verunsichert oder gar Angst macht, anstatt sich durch Aktivismus oder Reaktionismus nur weiter zu überfordern. Damit vielleicht nicht wie damals Massen von Neurasthenikern (Burnout-Patienten), systematische Unterdrückungen oder Ausbeutungen und bestialische Gewaltexzesse die Folge der globalen Umformungen sind, sondern ein trotz aller Konflikte und Komplexitäten auf Verständnis und Sorgfalt beruhendes Füreinander von Menschen, Natur und Technik, welches im Idealfall allen drei zugute kommt.

Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Optimisten

Roman, Suhrkamp/Insel, 2011.

Der Medici-Brunnen im Jardin du Luxembourg, Paris. (Bild: Wikipedia)

Mein liebes achtzehnjähriges Ich, auch wenn Du im Moment denkst, dass Du bei Weitem genug zu lesen hast für die Schule, solltest Du auf jeden Fall diesen Roman angehen, für Dich, fürs Leben. Mir musst Du auch nicht mit Ausreden kommen, denn ich erinnere mich gut, auch nebenbei noch genug Zeit für weniger kanonische Lektüren und weniger schlaue Unterfangen gehabt zu haben. Lasse Dich auch nicht von der Menge an Seiten einschüchtern, später wirst Du zur Überzeugung gelangen, dass Romane verdichtete Welten sind und daher am besten sehr umfangreich sein sollten, da sie ansonsten ja schlicht zu wenige Seiten hätten, um nicht zu einseitig oder gar zu oberflächlich zu sein.

Also, Du langweilst Dich schon und willst Gründe, weshalb Du den Club lesen solltest. Zunächst versammelt er mehrere Welten, die Dich interessieren: Paris, die Sechziger, den Sozialismus und andere Ideale, Rock’n’Roll, den Kalten Krieg, Jugend oder eher das Erwachsenwerden, Abenteuer, Kunst (Fotografie), Schicksalsschläge, Philosophie, Schach, Freundschaft und natürlich die Liebe. Die Hauptfigur steht wie Du vor seinem Reifezeugnis und meint genauso, schon fast alles und vieles besser zu wissen oder zumindest ein authentischeres Gefühl für die Wahrheit zu haben als andere. Er sieht und verhält sich schon viel erwachsener, als er eigentlich ist und orientiert sich immer mehr am Leben ausserhalb der zunehmend zerrütteten Familie.

Am liebsten hält er sich im Balto auf, das je nach Sichtweise einem Café, einem Bistro oder einer Brasserie gleichkommt, wo er auf wilde, geheimnisvolle, verschlossene und herzliche Charaktere trifft. Es ist eine ganz andere und mysteriöse Welt eines Clubs von russischen Exilanten, die sich Schach als Vorwand für etwas Geselligkeit in der Fremde ausgesucht haben. Alle spielen auf einem beeindruckenden Niveau, sodass Michel zunächst nur zuschaut, zuhört und lernt. Dabei nehmen die Lebensgeschichten der Spieler des Männerclubs mitsamt Ihren Verschränkungen immer mehr Gestalt an.

Michel Marini entdeckt die Fotografie und neue Motive. Die Lichtbilder zeigen die Helligkeit des sich aus Konventionen befreienden Bewusstseins und die Schatten politischer und ideologischer Unmenschlichkeit. Eben diese Gegensätze versammeln sich im Erleben der charakterlich recht unscharf gezeichneten Hauptfigur, die oft eher passiv ihr eigenes Leben zur Kenntnis nimmt, fast wie ein Kinobesucher. Dorthin, ins Kino, verirrt sich der im Gehen und sehr viel lesende Michel übrigens oft, besonders als er auf der Suche nach einer ganz bestimmten Person ist, deren Namen er nicht kennt.

Dass dieser Roman zu begeistern vermag, liegt neben dem Schauplatz, den malerischen Charakteren und den mitreissenden Erzählungen wohl vor allem am geschmeidigen Schreibstil und in diesem Fall auch an der Übersetzung, die kaum je auffällt und daher sehr gelungen ist. Obwohl ich Bücher nur selten mehrmals lese, werde ich diesen Roman dereinst noch im Original lesen wollen, denn manche Bücher sind eben um Welten immersiver und eindrücklicher als das Kino, zugleich aber ebenso unterhaltsam, schön, traurig und nicht selten auch komisch.

Die Optimisten sind keine, das Ende bleibt komplett offen, vieles kommt scheinbar nur zufällig zusammen und dennoch spiegelt diese Collage von Menschen im Umbruch wieder, wie zerrissen, wie beliebig sich das Leben oft zusammenfügt und dann im arrangierten Durcheinander völlig zufällig etwas ganz Ausserordentliches erscheint. Unbekümmert liest man bei diesem Werk vor sich hin, geniesst die stimmungsvollen Bilder vor innerem Auge und ist dann auf einen Schlag zutiefst berührt, ja durchströmt von Gefühl und Lebendigkeit.

Sabrina Janesch: Die goldene Stadt

Roman, Rowohlt Verlag, Berlin 2017.

Machu Picchu, stets von einer Aura des Unbekannten umnebelt. (Bild: Wikipedia)

„Halten Sie die Augen weiter geschlossen, nur so können Sie wahrhaft erkennen.“

Auf drei beliebig ausgesuchten Seiten dieses Romans kommt nach raschem Überfliegen mindestens zweimal das Wort „Gold“ vor und das überrascht nicht, beinahe wäre ich versucht, auf den etwas mehr als fünfhundert Seiten tatsächlich nachzuzählen. Spätestens ab der Hälfte ging mir das Wort schon tüchtig auf den Geist und war insofern eine ähnlich unangenehme Begleiterscheinung des Romans wie sein Protagonist. Was für ein unsympathischer Mensch! Und doch habe ich diese stellenweise widerspenstig und in teils unhaltbar plakativen Sätzen geflochtene Geschichte durchgehalten, denn gerade in der für einen Abenteuerroman untypisch unaufgeregten Erzählweise und im unerwartet Kuriosen der Motive lag ein gewisser Reiz. Dass das Tempo jedoch durchwegs gedrosselt bleibt und kaum je Fahrt aufnimmt, also nicht einmal in Kriegshandlungen, hat die Lesefreude schon recht gemindert. Vermutlich war es aber die eigene (wenigstens geistige) Entdeckernatur, die angestachelt wurde, wenn das Unerwartete auf jeder neuen Seite lauert. Man kann nicht anders und muss immer weiter, gerade so wie die Hauptfigur Berns. Überhaupt ist er eine gelungene Wahl, denn als introvertierter Antiheld und glückloser Glücksritter scheint er überhaupt nicht geeignet, überhaupt Interesse zu wecken. Doch in seiner ambivalenten Charakteristik passt er zum sperrigen Arrangement der Aventüre und als gesamthafter Wurf stellt daher das Ganze eine Mischung von Huldigung und Verballhornung des Genres dar. Man gewinnt auch den Eindruck, dass dem ganzen eine intensive Rechercheleistung vorausgegangen ist, bis ins Detail wirkt alles sorgfältig. Und dann wachsen in den Anden auf einmal Aloe-Pflanzen, typische Gewächse der alten Welt? Vieles schillert und gleisst, wie die Gebilde von Berns Vorstellungskraft, auch die Sprache mutet oft an wie ein tropischer Fiebertraum. Manche Passagen reduzieren sich auf assoziative Benennungen, als ob man die Mitschrift einer Therapiesitzung lesen würde, der Klang der Wortfolgen stimmt eher selten mit jenem der behandelten Zeit überein – und es macht nicht immer den Anschein, als ob dieser Kontrast willentlich besteht. Vieles bleibt erstaunlich oberflächlich erwähnt und wird nicht ausgeführt, während anderes immer wieder kommt, eben wie das Gold, Gold, Gold oder die Tatsache, dass mehrmals Spannung zu erzeugen versucht wird, wenn der Fuss beim Klettern abrutscht. Dies könnte sogar auch ein Stilmittel gewesen sein, ein Tunnelblick aufs Edelmetall, dessen äusserliche Eigenschaften, um Figuren, Landschaften und Episoden zu gestalten. Aber eben, es scheint nicht durchwegs der Fall gewesen zu sein, oder trügt das vielleicht? Insgesamt eine durchaus anregende Tour durchs ausgehende neunzehnte Jahrhundert und die Lebenswelten in Deutschland und Südamerika, stellenweise auch mit viel Unterhaltungswert dargestellt, wenn etwa den stattlich herausgeputzten Herren unter der Äquatorsonne die Pomade aus den Bärten tropft. Der umfassende Nachhall liegt dennoch in den typischen Gedankenbildern, wie sie auch ein herkömmlicher Abenteuerroman hinterlassen hätte, mit einer angenehm bitteren Note, dass eben manches nur dank des Scheins, den seine Oberflächlichkeit zurückwirft, glänzt und wertvoll wirkt. Und man klappt das Buch mit Lust auf die Andenwelt zu, nächste Station: vielleicht ja wieder einmal Alexander von Humboldt. Der meint übrigens schon recht früh im Buch zu Berns: „Die goldene Stadt? (…) Sie delirieren ja!“ Irgendwie hat er recht, sowohl als Zusammenfassung wie auch als Fazit.

Hans Saner: Die Anarchie der Stille

Lenos Verlag, Basel 1990.

„Bis alles in eine Stille mündet, die ganz anarchisch ist.“

Aphorismen lese ich nahezu so gerne wie Gedichte an einem stillen Ort und erlebe es als persönliche Teilhabe an der Anarchie, wenn ich, während ich etwas grösstenteils enorm Nutzloses produziere und damit eben gerade dem Gedanken der Produktivität zuwiderhandle und es deshalb schon hie und da als kreativen Akt erachte, mich mit fremden Gedanken befasse, dem Kontraste wegen eben gerne auch mit schönen oder zumindest schön formulierten Gedanken, die ja gerade heutzutage den meisten so gänzlich sinnlos und vermeintlich nutzlos erscheinen. Im Sinne Nietzsches gönne ich mir diese Seelenbisse eben nur häppchenweise, ja geradezu häufchenweise, und da zum körperlichen Stoffwechselprozess im übertragenen Sinn das geistige Delektieren von solchen Texten konträr ist, aber auch komplementär zusammenpasst, dauert die Schmökerei halt jeweils nur so lange man sitzt. So zieht sich der Verzehr eines solchen an sich gar nicht so voluminösen Bändleins ganz schön in die Länge, trotz der einen oder anderen Sessionsverlängerung, was aber auch wie gesagt trefflich resoniert mit der Resorbtionszeit an intellektuellem Brennwert angereicherter Texte. Einzelne wiederum passen dann aber eher wieder sinnfällig zu den fallenden Endprodukten, die mir dann wörtlich auch als Urteil entfahren, wenn ein Staatsabführer des jüngeren Chinas gelobhudelt wird. Doch sind es eben die wie gemeisselt anmutenden Kompositionsperlen, die gerade in einer an sich dem Kompost nähergelegenen Lokalität und in dessen stiller Trostlosigkeit umso mehr aufscheinen und umso mehr trostreich sich noch veredeln mit jedem neuen Lesen, als ob man sie im Mund zergehen lassen wollte und anstatt eines feinen Abgangs erhält und steigert sich ein geschmackvolles Erlebnis von Denkweite. Eben angesichts der konträren Beispiele solch einer disparaten Textsammlung und eingedenk des wenig spektakulären Ortes ihres Verzehrs. Gerade jener Gedankengang, dessen Titel auch dem Bändchen den seinen entliehen hat, ist ein ebensolches. Der Tendenz nach sind jene bewusstseinsgerechten Stücke, die sich den lange anhaltenden Themen wie der Menschheit an sich annehmen, die besonders schmackhaften. Jene hingegen, die sich den eher kurzfristigen Produkte und Ideen dieser Menschheit widmen, wiederum eher wenig erfreulich und ihnen ereilt dasselbe Schicksal wie den verstoffwechselten Menschprodukten, das reinigende Vergessen spült sie weg und nur ein feiner Geruch erinnert daran, dass auch wohlduftende Rosen im Dunkeln und Dumpfen wurzeln. Aber das Gefühl, wenn der Deckel zuklappt, ist doch einer der erleichterten Lebendigkeit, so dass selbst in Banalitäten noch so viel Sinn erkannt werden kann und man sagen kann, dass sich das Ausbrüten all dieser Gedanken gelohnt hat.

Philipp Blom: Die Welt aus den Angeln

Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart

Sachbuch, dtv, München 2018.

Typisches Gemälde einer winterlichen Szene im 17. Jahrhundert von Hendrick Avercamp – Quelle: Wikipedia

Ein weiteres Buch von Philipp Blom; und es wird sehr wahrscheinlich nicht das letzte sein, denn auf so angenehm vermittelte Weise will man sich doch stets gerne weiterbilden. Mehr noch als in „Böse Philosophen“ verbindet der Autor mit unveränderter Eleganz im Stil und fraglos beeindruckender Belesenheit auch dieses Thema und dazu noch eindringlicher mit der aktuellen Gemütslage der heutigen Zeit.

Und die Fragestellung ist ja zweifellos sehr interessant: Wie wirkt sich eigentlich eine Klimaveränderung (wie die kleine Eiszeit) auf die Menschen aus? Ohne zu viel aus dem Buch vorweg nehmen zu wollen, kann man behaupten, dass eine klimatische Veränderung, besonders wenn es sich um eine Krise handelt, die Menschen dazu bringt oder vielmehr zwingt, sich den neuen Bedingungen anzupassen, was unweigerlich zu gesellschaftlichen Umwertungen führt. Natürlich überrascht diese Erkenntnis im Anschluss an die Lektüre der im Buch beschriebenen Entwicklungen nun nicht allzu sehr, aber sie kann einen Anhaltspunkt darstellen für Überlegungen, wie sich die gegenwärtige Krise der messbaren Erwärmung global und regional auswirken könnte. Die Menschheit wird sich anpassen (müssen) und dies wird unweigerlich dazu führen, dass es so wie bis anhin nicht weitergehen wird. Sowohl gewohnte Annehmlichkeiten wie auch Unzulänglichkeiten werden ziemlich sicher dem Wandel anheim fallen, womöglich nicht alle, aber auch nicht wenige. Meine Überlegungen sind ominös und zu wenig fassbar. Herr Blom schafft viel mehr Klarheit, wenn er den historisch gewachsenen Status Quo der heutigen Gesellschaft in all ihren Aspekten sehr eindrücklich und nachvollziehbar im äusserst lesenswerten Epilog erfasst. Überhaupt möchte ich vor allem diesen Teil des Buches als unerlässlich bezeichnen und zum Nachlesen empfehlen, auch wenn er mit einem eher pessimistischen Fazit schliesst, das selbst für meinen Geschmack die Zukunft etwas gar düster ausmalt.

Das Buch ist als Klimageschichte wirklich spannend und enthält viel Ungeahntes, dies aber nur etwa bis Seite 60. Dann folgt so etwas wie eine biografische Geistesgeschichte insbesondere von Europa im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert, die sich mal mehr und recht oft weniger an den roten Faden „Klima“ hält, wenn auch die Ausführungen sehr lehrreich und ansprechend geschrieben sind. Erst gegen Ende des Buches wird das Kernthema wieder explizit aufgegriffen und dann aber gekonnt mit dem porträtierten Personal in Verbindung gebracht. Besonders anregend sind die Gemälde, die auch mit scharfem Auge beschrieben und erhellend gedeutet werden. Gerade deswegen würde ich die gebundene Ausgabe nahelegen, die auch bunte Illustrationen enthält, was nebst dem schönen Buch einen echten sinnlichen Mehrwert darstellt. Persönlich habe ich ein besseres Verständnis für die im ausgiebigen Untertitel angegebene Auswirkung der klimatischen Bedingungen auf die Moderne in fast allen Gesellschaftsbereichen gewonnen. Zudem erhärtet sich mein Eindruck, dass es wohl nur eine verlässliche Konstante der Geschichte gibt: Es kommt oft anders, als man denkt, denn die Menschen sind insgesamt sehr viel wandlungsfreudiger als ihr Ruf:

„Der einzige Unterschied zwischen uns und anderen Tieren besteht darin, dass Homo sapiens nicht ausschliesslich auf genetische Anpassung angewiesen ist, sondern durch seine Kulturtechniken und durch Ideen die Evolution beschleunigen kann.“ – Epilog, Seite 235.

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

Roman, Diogenes, Zürich 2014.

Nein, ich habe den Film noch nicht gesehen, mit Absicht. Zuerst wollte ich das Buch lesen. Und ich vermute, dass das Kopfkino in diesem Fall um Längen besser ist als der Film, aber das wird sich zeigen. Jahrelang hatte ich diesen Roman auf der mentalen „Zu-Lesen-Liste“, er war eben eines jener Bücher, die man auf die lange Bank schiebt mit der Überzeugung, dass sich schon eine Gelegenheit ergeben wird, es zu lesen und ansonsten hätte man auch nicht viel verpasst. Nun, da sich die Gelegenheit mit dem Argument von 1.90 Franken gewissermassen aufgedrängt hat, finde ich, man sollte die rund zweihundertsiebzig Seiten lieber lesen als diese ulkige Geschichte zu verpassen. Von der Handlung möchte ich eigentlich nichts preisgeben, weil sich daraus gerade der gewinnende Reiz von Wolkenbruchs Reise ergibt. Man kann sich aber vorstellen, dass ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der noch bei den Eltern und zudem in der etwas beengenden Geborgenheit der jüdischen Gemeinde lebt, der die Fühler ausstreckt in jene auf ihn zunächst befremdlich wirkende „Aussenwelt“, die ihn fremd im eigenen Haus werden lässt, ohne Weiteres die eine oder andere Verwirrung stiften kann. Besonders, wenn seine Mutter und das zur Überdehnung neigende Verhältnis zu ihr derart witzig mit viel Situationskomik ausgemalt und im Sinne der Kunst überzeichnet wird, so dass man bei der Lektüre einfach nicht anders kann als laut herauszulachen. Wenige Seiten dauert es und man hat die Hauptfigur Motti ins Herz geschlossen und kann mit ihr mitfühlen, um sie dann doch wieder zu bekopfschütteln, wenn sie mit einer für die Jugend typischen Tollpatschigkeit durch das Kuriosum zwischen Geburt und Tod stolpert, bisweilen auch torkelt, wenn sie „basojfn“ ist. Der Einblick in die jiddische Sprache und die kulturellen Eigenarten der jüdischen Gemeinschaft eröffnen auch einen ganz anderen Blick auf das heutige Zürich. Mottis Verwandlung zum Käfer der Familie verwandelt Bilder und Befremdlichkeiten mit unbeschwerter Leichtigkeit und Humor in Geschichten und Vertrautheiten. Nur die Begegnung oder „bagegenisch“ von Menschen, sei sie nun gewollt oder (vom Autor) schicksalshaft herbeigeführt, ermöglicht es dem Ich im Sinne Bubers am Du etwas über sich selbst zu lernen – je fremdartiger dabei das Du daherkommt, umso einfacher aber auch unverblümter kann oder muss sich das Ich selbst erkennen. Herr Wolkenbruch kann oft die Fettnäpfchen einfach nicht auslassen und ist daher weniger ein Held als ein Gleichnis für das vertrauensvolle Offensein für das Unbekannte in jeglicher Form: „Es geht auch nicht darum (…) die Zukunft zu sehen, sondern die Gegenwart, die unsichtbaren Teile der Gegenwart, in denen das Künftige angelegt ist.“ Dies zeigt sich eigentlich schon im ersten Satz, der ein kommendes Unheil ankündigt: „Mottele, wo bist du? Ich mache mir sorgn!“ Und schon beginnt’s zu rattern im Kopf…

Ausgelesen am 3. März 2019

Frank Schätzing: Die Tyrannei des Schmetterlings – Roman, Kiepenheuer & Witsch, 2018.

Beinahe durchgehend schlechte Kritiken erhält dieser neue Roman von Schätzing, wenn man jedoch den Schwarm (2004) so verschlungen hat, wie ich damals, kriegt man auch diesen Wälzer locker runter, und zwar ohne schwer schlucken zu müssen. Sowohl die Handlung, weil realistischer, der Stil, weil stimmungsvoller, vor allem aber auch die Spannung sind stellenweise sogar eindeutig besser. Wenn also mitunter bemängelt wird, das Buch ende abrupt und allzu hollywoodianisch, mag man vielleicht vergessen haben, dass der Schwarm zum Schluss diesen Prädikaten ebenfalls genügt und dabei sogar noch etwas abwegiger ist. Doch eins ums andere: Schätzing trifft mit den Themen künstlicher Intelligenz und Silicon-Valley-Kapitalismus durchaus und wieder einmal den Nerv der Zeit; dies war für mich eindeutig ein Grund, das Buch überhaupt in die Hand zu nehmen. Es fällt auch nicht schwer, sich geistig mit den Hauptfiguren zu verbandeln, denn obgleich anderswo das Gegenteil behauptet wird, besitzen diese Charakteren durchaus Tiefe und genügend Ambivalenz, um ausreichend echt zu wirken. Nebenbei angemerkt, will Schätzing ja sein Kino im Kopf literarisch zur Verfügung stellen, was auch eine gewisse Seichtheit erlaubt angesichts der immersiven Bildgewaltigkeit der Schilderungen. Und wenn bei mir ein Buch jenen Moment der filmischen Ergriffenheit auslöst, bei dem man sich buchstäblich mit den Fingern in den Sitz krallt, dann kann ich es gerne gelungene Unterhaltung nennen. Übrigens nehmen manche Rezensionen eindeutig zu viele überraschende Momente vorweg, so dass ich froh bin, zuvor keine gelesen zu haben. Als ethisches Gedankenexperiment, das jedoch stets im Rahmen des Möglichen bleibt, regt die Geschichte wirklich zum Nachdenken an. Bei aller philosophischen Güte und wissenschaftlichen Durchdachtheit, geht aus meiner Sicht die Logik der Entwicklungen des späteren Buches nicht ganz auf, aber niemals so, dass es einen am Weiterlesen und Mitdenken hindert. Im Kontrast dazu liest sich nämlich auch vieles als Parodie auf Personen und Gegebenheiten unserer gegenwärtigen Gesellschaften. Dass das Buch einige Längen aufweise, stimmt nur bedingt, würde ich sagen, denn gerade die gemächliche Erzählweise der ersten Hälfte trägt sehr zur unheimlichen Atmosphäre bei und erlaubt die massive Steigerung des Tempos gegen das Ende hin. Dort hingegen braucht es wirklich keine verdichtenden Beschreibungen und fantasievollen Ausschmückungen mehr, die eben schon auch vorhanden sind. Mir ist das eigentlich kein Dorn im Auge, da ich jeweils dazu tendiere, am Schluss eines guten Buches eher langsamer zu lesen, um es noch ein wenig länger geniessen zu können. Und okay, zugegeben, das Finale ist kitschig, aber eben, das verheisst auch schon die Umschlagsgestaltung und die Erfahrung mit dem Schwarm. Aber insgesamt, so als „Schwarm 2.0“ betrachtet, hat sich für mich die Lektüre mehr als gelohnt. Wenn man zu viel erwartet, wird man enttäuscht, ganz klar. Aber es handelt sich ja um eine bestimmte Art von Science-Fiction, die einen jeden Film übertreffenden Zuwachs an Spannung, Information und Vorstellungskraft bietet, und zwar nicht zu knapp. Genervt an diesem Buch hat mich eigentlich nur, dass es offenbar etwas hastig lektoriert worden ist. Zudem möchte ich behaupten, dass ich auch in hochstehender Literatur nur selten so berührend formulierte Sätze wie diese vorgefunden habe:

„Jemand hat Emmylou Harris mit einem Vierteldollar gefüttert, unterschluchzt von Slide-Gitarren singt sie das Lied einer Sitzengelassenen. Der indianisch aussehende Trucker, der öfter in Downieville übernachtet, wiegt sich mit einer nicht ganz nüchtern wirkenden Frau versonnen in seiner Jugend. Fleischsaft läuft aus dem Brötchen. In der Touristensaison ist das St. Charles Place ein lärmender, ausgelassener Ort, an den Abenden wie diesen durchtränkt von jener schwer zu fassenden Melancholie, die nur versteht, wer in den Lebenden die Toten sieht. Die drei riesigen Spiegel hinter der Bar werfen jeden gefassten Vorsatz, der über die nächste Bestellung hinausgeht, auf ihren Urheber zurück. Man starrt blind auf sich selbst, für den Moment zufrieden. Das kräftige Bier spült den bitteren Geschmack vergeudeter Jahre hinunter, die Ereignislosigkeit des Abends wärmt wie ein falsches Kaminfeuer.“ – Zitiert: Seite 323.

Ausgelesen am 20. Februar 2019

Stephan Thome: Gott der Barbaren – Roman, Suhrkamp, 2018.

Ein historischer „Abenteuerroman“ im China zur Mitte des 19. Jahrhunderts und nominiert für den deutschen Buchpreis: Das ist genau mein Ding, dachte ich. Um es vorweg zu nehmen, meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht, aber eben auch nicht erfüllt. Es ist ein merkwürdiges Buch, vermutlich weil es historischer Roman, philosophisches Gleichnis und poetisches Gemälde zugleich sein möchte. Aber „abenteuerlich“, wie es der Verlag anpreist, ist es doch kaum jemals und die wenigen Passagen, da die Erzählweise wirklich in diese Richtung geht, sind dann doch stark ästhetisiert, so dass eigentlich der Nervenkitzel ausbleibt, die starken Schilderungen jedoch ihren bleibenden Eindruck machen. Selbstverständlich ist insbesondere der Weg der Hauptfigur ins unbekannte China ein grosses Wagnis, da die Handlung so sehr in den Köpfen und in Monologen stattfindet, ist man eher fasziniert anstatt gefesselt. Erstes Zwischenfazit: Kein Abenteuerroman! Dann zeigt sich anhand des dichten Innenlebens der Charaktere viel, manchmal all zuviel menschliches Denkverhalten. Nicht wenig wird auf Hegel verwiesen und zum europäischen Weltbild lässt sich wohl kaum ein antithetischeres als das fernöstliche hernehmen, von daher ist die Referenz sehr passend gewählt, zumal sich hegelianische Konzepte wohl nur anhand des konkret geschilderten Beispiels in erträglicher Weise aufzeigen lassen. Als Kontrast und zur Ebenbürtigkeit des interkulturellen Dialogs, den der Roman pflegt, werden verschiedene chinesische Weisheiten und Sinnsprüche miteingewoben und stark gemacht. Die westlichen „Teufel“ erscheinen so angesichts der jahrtausendealten chinesischen Kultur nicht selten als unbeholfene und starrköpfige Trottel, die Asiaten hingegen als verschlossen und unbeteiligt grausam, so dass die immer wieder geäusserte Ansicht, dass die Chinesen erhaben und im Gegensatz zu allen anderen die eigentlichen Menschen seien, weil sie Mitgefühl hätten, nicht nur widersprüchlich, sondern geradezu verstörend wirkt. Dass Fremd- und Selbstbilder nicht nur verklären, sondern geradezu irreführend sind, zeigen diese rund siebenhundert Seiten eindrücklich auf und geben Anlass, die eigenen Vorstellungen des Menschseins zu hinterfragen. Dennoch beeindruckt das Buch vor allem als Ode an die Gelehrsamkeit, weniger als Anregung zum persönlichen Umdenken und wirkt damit eher schmälernd auf das intellektuelle Selbstbewusstsein der Lesenden. Zweites Zwischenfazit: Als philosophisches Gleichnis nur ansatzweise inspirierend! Dann aber werden die Personen derart gut gezeichnet mit Kontrasten und Kanten, man taucht ein in ihre Vorstellungswelt und wird Zeuge ihrer Gedanken, ebenso bleiben die Schilderungen von Ereignissen und Orten wie persönliche Erinnerungen haften, dass man rein literarisch allemal auf seine Rechnung kommt, wenn man sich dem gemächlichen Tempo des Erzählens anvertraut. Man hat Gelegenheit, sich im Wuwei des Lesens zu üben, also zu Lesen, ohne dabei etwas zu erwarten, rein um des Lesens willen. Dann ist auch das wenig ergiebige Ende des Buches nicht eine Enttäuschung, sondern eine Einladung, die Geschichte in Gedanken weiterfliessen zu lassen. Echtes Fazit: Auch wenn man zum Schluss nicht viel mehr über diese geschichtlich interessante Zeit weiss, auch wenn man wenig gedankliche Beute machen kann, auch wenn man zum Schluss gar nicht so recht weiss, was man da nun gelesen hat, bleibt eine gefühlte Bereicherung zurück, die der Weite des allgemeinen Horizonts zuträglich ist. Am Schluss eines Romans sollte doch ein Gefühl bleiben, das gelingt „Gott der Barbaren“ auf jeden Fall, nur ist das Gefühl eher komplex und damit wohl ein passendes Abbild des Themas. Die Wirkung bei mir war jedenfalls die, dass sich die Zeitempfindung ausgedehnt hat, dass sich die Empfänglichkeit für das Harmonische gesteigert hat und dass ich gerade im Moment meine wiederentdeckte Liebe zum Grüntee pflege…

Ausgelesen am 27. Dezember 2018

Harry Thompson: This Thing of Darkness

Roman, Headline Publishing Group, London 2010.

Kurz vor seinem sehr frühen Tod mit 45 Jahren – es war Lungenkrebs – erschien der erste Roman von Harry Thompson unter dem Titel „This Thing of Darkness“ . Der Titel ist inspiriert durch das Stück „Der Sturm“ von Shakespeare, die entsprechende Stelle im letzten Akt wird auf Deutsch einstweilen mit „Geschöpf der Finsternis“ übersetzt, was dem diffusen Original jedoch nicht gerecht wird, denn mit der Finsternis könnte auch ein offenbarter Persönlichkeits- oder Wesensaspekt des sprechenden Prospero gemeint sein.

Der Roman selbst beginnt denn auch mit einem Unwetter auf See und handelt in absichtlich antiquiertem Englisch von der tragischen Figur des Robert Fitzroy, der nach dem Selbstmord seines Vorgängers unerwartet Kapitän des berühmten Segelschiffs HMS Beagle wird. Diese erste Reise der Beagle nach Feuerland und der herausfordernde Umgang mit den ansässigen, den Entdeckern komplett fremdartigen Ureinwohnern liefert die eigentliche Rahmenhandlung des Buches und ist aufgrund der unzeitgemässen Haltung Fitzroys sehr tiefsinnig gehalten. Der bildgewaltige Anfang liest sich wie ein typisches Seefahrer-Abenteuer.

Die zweite Reise des Schiffes ist wohlbekannt durch die Teilnahme Charles Darwins, dessen Beobachtungen in Südamerika als Belege eingeflossen sind in die später entwickelte Evolutionstheorie, wobei Darwin (und nicht Wallace) nur durch dessen publizistischen Ehrgeiz weithin als (alleiniger) Urheber gilt – aber das ist ein anderes Kapitel, oder sogar ein ganzes durchaus lesenswertes Buch: The Reluctant Mister Darwin. Besonders amüsant ist in diesem Mittelteil, wie sich die lebendig ausgestalteten und sehr gegensätzlichen Charaktere von Fitzroy und Darwin debattierend und um Argumente ringend über die Natur der Dinge in die Haare geraten, sich zugleich aber auch soweit schätzen lernen, dass sie einander auch vermissen, wenn z.B. Darwin auf dem Festland sich nebst dem Forschen vom wilden Leben der Gauchos begeistern und von einem Autokraten blenden lässt. Die Mitte des Romans bietet (natur-) philosophische Dichte und liest sich stellenweise fast schon wie ein platonischer Dialog. Es ist also auch kein Wunder, dass die Konstellation dieser zwei Figuren auch zu einem Theaterstück gereicht hat.

An diesem Punkt hätte man ein gutes Ende finden können, aber es wird durch biografisches Engagement und vermutlich durch zuviel recherchiertes Material in die Länge gezogen. Es folgen jedoch alles Ereignisse, deren Schilderung den fulminant komponierten Schluss im Rückblick besser nachvollziehbar werden lassen. Der zu Beginn eröffnete Bogen schliesst sich und es stehen düstere Dinge an beiden Enden des Werkes. Womöglich bezieht sich der Titel also auf eine seelische Konstellation, von der Fitzroy immer wieder übermannt wird. In der Jugend kann er sich der Herausforderung des Lebens (dem Sturm) noch stellen, doch im Alter und von der Gesellschaft gebeutelt fehlt im dazu die Willenskraft, gerade weil er als Mensch aus einer anderen, einer zugleich aufgeklärteren wie moralisch erhabeneren Zeit zu stammen scheint. Für England hat Fitzroy ein Sturmwarnsystem und seriöse Methoden der Wettervorhersage entwickelt; gegen den Sturm im Innern, der ihn jeweils in die Finsternis riss, war er hingegen zunehmend machtlos.

Die Geschichte zeichnet exemplarisch die Paradoxie des Menschen ab, der die Natur verstehen möchte und sie dennoch nicht ihrem Wesen nach erkennen will, der fremdem Verhalten begegnet und es dennoch immer nur als minderwertige Spielart der eigenen Kultur begreifen kann, der letztlich sich selbst zu beherrschen versucht und dennoch nicht nach innen zu sehen vermag, um mit sich umgehen zu lernen. Nicht wenige Menschen dürften auch heute der inneren Konstitution nach wie ein Segelschiff ohne psychisches Barometer und Kreiselkompass auf dem offenen Ozeans des Lebens unterwegs sein. Es wäre an der Zeit, jenes Ding von Dunkelheit in sich ernst zu nehmen, um klarer zu erkennen, verantwortlicher zu handeln und intensiver zu leben.

Ausgelesen am 8. Dezember 2018

Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker.

Eine Utopie für die digitale Gesellschaft, Goldmann Verlag, München 2018.

Bislang konnte mich R. D. Precht nicht so recht begeistern, bei „Jäger, Hirten, Kritiker“ ist es jedoch anders. Das Buch ist hochaktuell und behandelt Fragen, die mich auch gerade umtreiben, ausserdem merkt man, dass der populäre Denker sich hier etwas von der Seele schreiben wollte, was ja allein deshalb schon interessant ist. Prechts Abhandlung ergibt sich ausgehend von der Vorstellung des Marxismus, dass durch Arbeitsteilung und gerechte Verteilung der Produktionsmittel die Menschen entlastet werden und so auf vielseitige Art zum Wohl der Gesellschaft beitragen können: „(…) heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Zitat aus der Deutschen Ideologie von Marx und Engels) Zu dieser Arbeitsweise nötigt heute viele von uns und in der Zukunft noch viele mehr der Kapitalismus (z.B. durch Billiglöhne, mehrere Teilzeitjobs, andauernde personelle Restrukturierungen, etc.), jedoch auf ausbeuterische Weise und letztlich zum Profit von wenigen und auf Kosten der natürlichen Ressourcen. So wird es langfristig aufgrund des technologischen Fortschritts (Automation/Digitalisierung) immer weniger Arbeit für Menschen und daher entsprechend viele Arbeitslose geben, für die in unseren Gesellschaften nicht die besten Bedingungen und Aussichten herrschen, gerade weil mit der Arbeitslosigkeit (oder in der Schweiz sogar mit der Teilzeitarbeit) ein grosses Stigma der Faulheit und Nutzlosigkeit einhergeht. Eine wie oben zitierte Lebensweise könnte aber auch wünschenswert sein und ermöglicht werden durch – Tusch und Fanfaren – das bedingungslose Grundeinkommen. Schön finde ich, dass Precht hier klarmacht, dass das BGE nicht die Lösung aller Probleme sein kann, aber ein entscheidender Schritt hin zu einer Gesellschaft, in welcher wie im Star Trek Universum gearbeitet wird, um sich (zum allgemeinen Nutzen) zu verbessern und zu verwirklichen. Natürlich ist das noch Utopie, von der Precht sich inspirieren liess und die als Konzept im Buch auch philosophisch behandelt wird, aber – und hier muss ich ein wenig spoilern – das Buch schliesst mit dem Fazit, dass bei allem guten Grund zum Pessimismus angesichts der gegenwärtigen Lage von Menschheit und Umwelt trotzdem nur ein optimistisches Mitwirken für eine bessere Zukunft sinnvoll ist, denn das Verzagen befeuert nur die aktuellen Entwicklungen und ist daher keine wirkliche Option. Das Buch ist ein ermutigendes Plädoyer für eine fortschrittliche, menschliche und naturnahe Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens.

Ausgelesen am 21. Oktober 2018

Philipp Blom: Böse Philosophen. 

Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. Carl Hanser Verlag, München 2011.

In „Böse Philosophen“ (eigentlich „A wicked company“, was als Originaltitel dem Inhalt viel besser entspricht) beleuchtet Philipp Blom die andere, die vergessene und radikalere Seite der Aufklärung, wie sie unter anderem im Pariser Salon von Holbach gepflegt und oft unter Pseudonymen in später nicht selten verbotenen und verbrannten Werken an die Öffentlichkeit gelangte. Das Buch beginnt mit der Suche nach der Adresse zum Haus des Salons und könnte insgesamt als Rehabilitierung des Werkes und der Person Diderots oder aber genauso gut als Relativierung der Genialität Rousseaus gelesen werden. Vor allem aber zeigt der Autor, dass in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einige Geister bereits viel offener, menschlicher und aufrichtiger dachten, als es die meisten heute wagen. Die europäische Ideengeschichte, zumindest so wie ich sie gekannt habe, wird durch diesen interessant geschriebenen Text bereichert und ergänzt, vor allem, was die Einschätzung der Bedeutsamkeit zentraler Persönlichkeiten der französischen Aufklärung betrifft. Nicht wenige Stellen lassen einen beim Lesen innehalten und nachdenken, lassen die Gegenwart aus historischer Perspektive plötzlich anders und bestimmt auch etwas klarer erscheinen. Bei mir hat dieses Buch die Lust auf mehr von Blom geweckt, und da gibt es ja einiges, was sehr vielversprechend klingt. Die deutsche Fassung enthält recht viele Druckfehler, so dass ich beim zweiten Verzehr eher die englische Ausgabe delektieren würde. Das Titelbild „Three Persons Viewing the Gladiator by Candlelight“ von Joseph Wright of Derby allerdings ist beim deutschen Taschenbuch eindeutig geschickter gewählt.

Ausgelesen am 23. Juli 2017

Remo Largo: Das passende Leben.

Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017.

In „Das passende Leben“ beschäftigt sich Remo Largo mit der Frage, wie (erwachsene) Menschen so leben können, dass es ihnen gelingt, ihre individuell ausgeprägten grundlegenden Bedürfnisse, z.B. die soziale Anerkennung, dank ihrer ebenfalls individuell ausgeprägten Kompetenzen ausreichend zu befriedigen. Largo bezeichnet sich als Optimisten, das zeigt sich auch, wenn er vertrauensvoll davon ausgeht, dass die Menschen weitestgehend in der Lage sind, sich selbst zu entfalten, wenn sie von Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft und Bildungswesen wenigstens nicht daran gehindert oder bestenfalls darin unterstützt werden. Das Buch gestaltet sich zum Ende hin als ein Plädoyer für menschenfreundlichere Bedingungen in sämtlichen Lebensbereichen, z.B. indem politische Macht fragmentiert werden und somit für mehr politisches Engagement der Einzelpersonen sorgen soll. Und angesichts der Digitalisierungs- und Automatisierungstendenzen der Wirtschaft ist auch Largos Fazit, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzierbar ist und in Zukunft überhaupt erst ein würdevolles menschliches Dasein garantieren kann. Der wohl eindrücklichste Vergleich gelingt Largo mit den Erkenntnissen zur Zoohaltung von Tieren in den letzten hundert Jahren, als man mit der Zeit einsah, dass Lebewesen ohne artgerechte Haltung und ohne passende Umwelt schlichtwegs eingehen. Da die modernen Gesellschaften für die Menschen eher künstlichen als ursprünglichen Lebensräumen entsprechen, ist die Frage, wie wir diese möglichst artgerecht und daher menschlich gestalten können. Largo sieht die Lösung unter anderem in generationenübergreifenden Lebensgemeinschaften, wie sie sich etwa in (neueren) Wohngenossenschaften bilden. Einige Kapitel schmecken ein wenig nach aufgewärmtem Altmaterial aus früheren (Baby- oder Jugend-) Jahren, auch werden stellenweise aus Volksweisheiten relativ zügig Lebensweisheiten, aber insgesamt ist der Text flüssig und stimmig durchformuliert und daher auch angenehm zu lesen. Konzepte wie „Individuum“ und „Kompetenzen“ werden nach meinem Geschmack zu wenig hinterfragt, die Forderung nach mehr Humanität jedoch ist zweifellos angebracht und gut begründet: Nur Menschen, die ein menschenwürdiges Leben führen können, sind zufriedener und verhalten sich folglich auch friedfertiger.

Ausgelesen am 3. November 2016

Carlos Fraenkel: Mit Platon in Palästina.

Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt. Hanser Verlag, München 2016.

Heute habe ich „Mit Platon in Palästina“ zu Ende gelesen. Es wird darin anhand von Debatten in unterschiedlichen Kulturkreisen aufgezeigt, dass die Philosophie durchaus hilfreich ist, wenn sie Gesprächsteilnehmern erlaubt, einander interessiert zu begegnen und sich als vernunftbegabte Wesen zu unterhalten. Fraenkel berichtet, wie er die Diskussionsgruppen begleitet und sie zum Denken angeregt hat, auch zum Nachdenken über die eigenen Überzeugungen. Es ist eindrücklich zu erleben, dass die Philosophie einen ganz konkreten praktischen Nutzen hat, nämlich einen vorurteilsfreien und rücksichtsvollen Umgang mit Meinungen und Menschen zu fördern. Dass der zweite und kürzere Teil des Buches den Berichten einen theoretischen Rahmen bietet, ist vor allem für Fachleute interessant, aber allemal lesenswert. Die Philosophie kann die Konflikte dieser Welt wohl kaum beseitigen, aber dieses Buch schenkt einem die Zuversicht, dass es tatsächlich gelingen kann, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen neue Möglichkeiten zum Dialog zu schaffen. Da die allermeisten Behauptungen auf Irrtümern beruhen könnten, lohnt es sich durchaus, über die eigenen und natürlich auch andere Standpunkte nachzudenken oder besser noch: mit anderen zu sprechen. Behauptet zumindest Fraenkel und ich behaupte, zumindest vorläufig, dass er damit ziemlich richtig liegt. Aber ich könnte mich auch irren…

Ausgelesen am 16. Oktober 2016

Ilija Trojanow: Der Weltensammler. 

Roman, dtv, München 2007.

Heute habe ich den Roman „Der Weltensammler“ von Ilja Trojanow zu Ende gelesen, endlich zu Ende gelesen. Das Leben des Tausendsassas Richard Burton – nicht der Schauspieler – war zweifelsfrei sehr spannend, der Roman leider nur stellenweise. Auch wenn mich die Mehrstimmigkeit wie z.B. im „Wolkenatlas“ von David Mitchell im Grunde begeistert, so finde ich sie jeweils recht anstrengend auf die Dauer. Vor allem, wenn sie nicht immer konsequent durchgehalten wird. Auch sonst gab es hin und wieder Stellen in diesem Buch, die ich sprachlich einfach nicht gut fand: Kurze Protokollsätze über zwei Seiten hinweg erzeugen nicht automatisch Spannung. Oder merkwürdige Nebensätze gab es hin und wieder, wie etwa jener, der bezeugte, dass ein Vogel fliegt. Das hat mich dann einen Moment verdutzt innehalten lassen. Drei Episoden aus Burtons Leben unterteilen das Buch: Indien hat mich eher gelangweilt, da ich wohl mehr oder anderes erwartet habe. Arabien hat mich begeistert, denn Burton spielte eine Rolle und hat sich im Laufe der Pilgerfahrt mit der Rolle identifiziert. Und die Expedition in Afrika schliesslich war eindrücklich geschildert und hat eine Bildungslücke geschlossen, doch die Perspektivenwechsel waren mit der Zeit eben ermüdend. Der leider kurz gehaltene Schluss hat für das Durchhalten mehr als belohnt. Ein schönes Buch, stellenweise sehr poetisch und nachdenklich, was mir natürlich gefällt. Doch ich frage mich, ob man diese Lebensabschnitte nicht etwas packender hätte erzählen können, denn abenteuerlich waren sie auf jeden Fall.

Ausgelesen am 1. Mai 2016

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten.

Eine neue Geschichte der Welt. Rowohlt Verlag, Berlin 2016.

Es ist schon etwas sonderbar, wenn ein Originatltitel wie Peter Frankopans „The Silk Roads“ übersetzt wird als „Licht aus dem Osten“, und doch scheint mir der übersetzte Titel fast treffender zu sein, da die Seidenstrassen relativ wenig ausführlich thematisiert werden. Es handelt sich, trotz der Untertitelung als Weltgeschichte, eher um eine Geschichte des Westens unter spezieller Berücksichtigung des Ostens. Es erstaunt schon, wenn man dank des Buches erkennt, wie orientalisch das Christentum und der Okzident doch sind, seit sie den Status der Randreligion und -region losgeworden sind. Einmal mehr erschreckte mich das Ausmass der Niederträchtigkeit von Kolonialismus und Imperialismus, zumindest verstehe ich die Phänomene nun noch etwas besser. Für meinen Geschmack war der Fokus der historischen Betrachtung bei aller Faszination für die Inseln fast ein wenig zu britisch. Besonders gelungen ist auf jeden Fall die Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts bis zur jüngsten Gegenwart. Insgesamt ist das Buch stellenweise etwas verworren im Erzählstil, aber sehr eloquent (zumindest in der englischen Variante) und natürlich auch informativ.